„Wenn diese Art der Erhitzung der Erde, so wie sie von der Naturwissenschaft berechnet wurde, eintritt, erwarten uns Zustände, die schlimmer sind als in den pessimistischsten Szenarien. Das wagen wir uns nicht vorzustellen.“ Harald Lesch in seinem Vortrag „Die Menschheit schafft sich ab.“
Die Romanschreiber wagen es!
Weltweite Seuchen, Dürren, Überflutungen, Überwachungssysteme, Blackouts, Genmanipulation, Quantencomputer, künstliche Intelligenz – all das ist bereits in Romanen beschrieben worden. Dabei weiß niemand, wie es in solchen Fällen wirklich zugeht, aber die gedankliche Simulation ist ein konstitutives Element bei der Problembewältigung. Deshalb sind diese Szenarien der Ausgangspunkt für viele Zukunftsromane, meist Dystopien. Neben der Beschreibung der Katastrophen gibt es auch hoffnungsvolle Ansätze, die für die Gestaltung der Zukunft hilfreich sein könnten. Aber kann Literatur wirklich Lösungen aufzeigen? Appelle gibt es ja genug. Der Unterschied zu den Klimaaktivisten ist in der Tat, dass die Szenarien durchgespielt werden, nach dem Motto: Selbst wenn es so weit kommt, gibt es möglicherweise doch noch Auswege bzw. ein Weiterleben der Menschheit. Wobei die Lösungen oftmals von einer neuen Gefahr nicht zu unterscheiden sind.
In diesen Zukunftsromanen geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern zu schildern, was eintreten könnte, wenn wir unsere Probleme nicht in den Griff bekommen. Je drastischer die Handlungen sind, um so deutlicher die Warnung.
In Science-Fiction-Geschichten werden manchmal wissenschaftliche oder technische Entwicklungen vorweggenommen oder Ansätze aus der Wissenschaft aufgenommen und mit Wünschenswertem oder Angstmachendem verbunden.
Neben Science-Fiction oder Dystopie gibt es weitere Bezeichnungen, z.B. Postapokalyptische Literatur, Climate-Fiction oder Hopepunk.
Beispiel für Postapokalypse: Die Welt, wie sie einmal war, existiert nicht mehr. Die Ausbeutung und der daraus folgende Klimawandel verwandelten den blauen Planeten in eine endlose Wüste. In der Stadt Arcadia verbirgt sich in einer schützenden Atmosphäre das letzte Stück fruchtbare Erde, das eine Elite für sich in Anspruch nimmt. Die Stadt wird streng bewacht. Um die Bevölkerung, die in Ruinen in der Wüste lebt, in Schach zu halten, implantiert die Regierung allen Bewohnern Mikrochips. Jeglicher Widerstand gegen das Regime wird im Keim erstickt (A.R. Stone, Unzerbrechlich, 2019).
Vorbilder für Arcadia sind künstliche Biosphären, wie sie in Arizona und in England bereits in den 1990er Jahren geschaffen wurden (Biosphere 2 und Eden-Projekt).
Es findet sich häufig das Szenario, dass die Menschheit zerfällt in einen hoch technisierten Teil und einem Teil, der weiterhin „natürlich“, gefährdet oder zurückgeblieben lebt.
In manchen Romanen entwickelt sich die Welt auch in eine scheinbar positive Richtung wie in „Skythe“ von Neal Shusterman. Die Menschen sind unsterblich geworden. Um einer Überbevölkerung entgegenzuwirken, gibt es eine Art öffentlich bestellter Beamter, die beauftragt sind, jährlich eine bestimmte Anzahl von Menschen umzubringen, und zwar völlig willkürlich. Die KI, die diese Welt steuert, ist entgegen anderen Szenarien sehr freundlich und nicht despotisch. Sie greift auch dann nicht ein, als das „Skythentum“ völlig aus dem Ruder läuft.
In „Hüter der Erinnerung“ von Lois Lowry wird eine scheinbar perfekte Welt entworfen. Gefühle werden eliminiert, die Menschheit stark reglementiert und überwacht. Es gibt weder Hunger noch Krieg, aber auch keine Höhepunkte im Leben und keine Emotionen.
Der Hopepunk, erstmals 2017 so benannt, entstand aus dem Widerstand gegen die Resignation, gegen die negativen Zukunftsvisionen der Dystopie-Literatur. Nachdem viele Warnungen der Dystopien ungehört verklungen sind, machte sich der Ruf nach optimistischeren Zukunftsvisionen breit. Es geht nicht mehr um Schwarzmalerei, sondern um Lösungen aus den Miseren unserer Zeit. Dabei steht nicht der Einzelne im Vordergrund, sondern die Welt als Ganzes. Es geht um den soziopolitischen Zusammenhang, um Widerstand gegen Nihilismus und Pessimismus. Hopepunk resultiert aus dem Willen, für die eigenen Überzeugungen, gegen Unrecht und für eine bessere Zukunft einzustehen. Hierzu gehört auch die Bewegung „Fridays for Future“, denn es geht dabei nicht nur um Literatur, sondern um eine Geisteshaltung. Beispiele in der Literatur sind: Judith und Christian Vogt mit ihrem Roman „Wasteland“ und Becky Chambers mit ihren „Wayfarer“-Romanen.
In der Climate-Fiction steht der Prozess des Klimawandels im Mittelpunkt. Beispiel: Maja Lunde, Der Weg des Wassers. Lunde verknüpft die vergeblichen Mühen einer Klimaaktivistin im Jahr 2017 mit einer Zeit in der Zukunft (2041), in der große Dürren Menschen aus Südeuropa zur Flucht in den Norden zwingen. Bedeutsam ist die Verknüpfung der Fehlhandlungen von heute mit den katastrophalen Konsequenzen in der Zukunft.
Diese verschiedenen Bezeichnungen sind jedoch nicht klar voneinander abgegrenzt, sie überschneiden sich teilweise.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Prinzip der Regnose, das als Gegenbegriff zur Prognose von Matthias Horx 2020 entwickelt wurde. Sie basiert auf einer geistigen Technik, in der wir uns selbst in die Zukunft versetzen. Und von dort aus zurückschauen. Die Regnose ermöglicht eine Perspektive der Bewältigung, des Wandels. Wir betrachten die Welt „von vorn“, aus der Sicht dessen, der eine Krise überstanden hat. Damit verändern wir die Richtung unseres Fragens. Wir fragen nicht „Was könnte alles schief gehen?“, sondern „Wie wäre es, wenn wir es hinbekommen hätten?“. Solche Zukunftsbilder bauen nicht auf Fakten auf, sondern auf der Fähigkeit der Imagination. Diese Kraft ist eine zutiefst menschliche und sie steckt in jedem Einzelnen von uns. Diese Technik des Antizipierens wird ebenfalls gerne in der Zukunftsliteratur verwendet.
Natürlich ist diese Art der Literatur nicht nur belehrend, sondern auch unterhaltend. Es handelt sich Spannungsliteratur und vermag deshalb in der Regel den Leser mehr zu packen als wissenschaftliche Warnungen. Insofern kann sie im Kampf gegen die Menschheitsprobleme gefühlsmäßig einiges bewegen. Zur Lösung braucht es jedoch die Umsetzung, das praktische Tun bzw. Lassen, die Politik und die Erfindungen der Wissenschaft.
A.R. Stone, Unzerbrechlich,
Independently published (25. November 2019), Taschenbuch 16,90 € E-Book 8,99 €
Neal Shusterman, Skythe,
FISCHER Sauerländer; 4. Edition (26. Juni 2019)
– Die Hüter des Todes: Band 1
– Der Zorn der Gerechten: Band 2
– Das Vermächtnis der Ältesten: Band 3
– TB jeweils 15 €, E-Book 9,99 €
Lois Lowry, Hüter der Erinnerung
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 17. Edition (1. Oktober 2008), TB 9,95 €, E-Book 4,99 €
Judith und Christian Vogt, Wasteland Knaur TB; 1. Edition (1. Oktober 2019) TB 14,99€, E-Book 12,99€
Becky Chambers, „Wayfarer“-Romane, 4 Bände, FISCHER Tor; 1. Edition (25. Mai 2022), TB 13 €, E-Book 9,99 €
Maja Lunde, Der Weg des Wassers,
btb Verlag (10. Juni 2019), TB 12 €, E-Book 9,99 €